„Warum haben sie Jaurès getötet?“ „Nicht der Krieg ist revolutionär, der Friede ist revolutionär.“ Jean Jaurès hatte immer wieder vor dem ersten Weltkrieg gewarnt – und sich damit mächtige Feinde gemacht. Heute vor 100 Jahren wurde der französische Politiker und Pazifist in Paris erschossen. Bei Friedensdemonstrationen und im Parlament trat er für eine politische Verständigung mit Deutschland ein. Dafür war er bei der politischen Rechten verhasst.

ERSTER WELTKRIEG

„Warum haben sie Jaurès getötet?“

Von Ruth Jung

Soldaten der französischen Armee im Ersten Weltkrieg.

Soldaten der französischen Armee im Ersten Weltkrieg. Jaurès hatte vor dem Krieg gewarnt. (picture-alliance/ dpa)

Jean Jaurès hatte immer wieder vor dem ersten Weltkrieg gewarnt – und sich damit mächtige Feinde gemacht. Heute vor 100 Jahren wurde der französische Politiker und Pazifist in Paris erschossen.

„Es ist totenstill. Unter dem grau verhangenen Winterhimmel warten die Tausende. (…) Niemand spricht, ein einziges Herz schlägt. Und mahnt. Ein zweiter großer Katafalk, wie ein Tank anzusehen und von sechzig Arbeitern getragen, nimmt die Asche dessen auf, der noch zuallerletzt gemahnt und gewarnt und für das zu bewahrende Leben der andern sein Leben hingegeben hat. (…)“

Der Journalist und Schriftsteller Kurt Tucholsky in der „Weltbühne“ im Dezember 1924 über Jean Jaurès Überführung ins Panthéon.

„Am 31. Juli 1914 hat ein Leser der französischen Lokalanzeiger im Café du Croissant der Rue Montmartre den großen Sozialisten Jean Jaurès ermordet. Der war noch am Morgen dieses Tages ins Parlament gestürzt, die Nachricht von der Verkündigung des ‚Kriegsgefahrzustands‘ in der Tasche, hatte die genaue Bedeutung des Wortes im Lexikon nachgeschlagen und in unverwüstlichem Glauben ausgerufen ‚ Ce n’est pas encore la guerre!‘ Das ist noch nicht der Krieg!“

Zwischen Völkerbund und Grande Nation

In der Tageszeitung L’Humanité, die Jean Jaurès 1904 gegründet hatte, hatte der unbeugsame Pazifist immer wieder Militarismus und Nationalismus angeprangert und für einen Völkerbund plädiert.

„Bricht der Krieg aus, dann wird er sich gleich einer Seuche verbreiten und zum schrecklichsten Völkermord seit dem Dreißigjährigen Krieg führen.“

Der am 3. September 1859 in Castres im Südwesten Frankreichs geborene Sohn einer alteingesessenen Bürgerfamilie war ein hochbegabter Redner: Schlagfertigkeit, umfassende Bildung, gepaart mit Einfachheit und Freundlichkeit kennzeichneten ihn. Mit 26 Jahren zog der Philosophieprofessor als jüngster Abgeordneter der republikanischen Partei in die Nationalversammlung der Dritten Republik ein. Überzeugt, dass es möglich sei, eine gerechte Sozialordnung herzustellen, kämpfte Jaurès für die Einheit der europäischen Arbeiter.

Eine Demütigung für die Revanchisten

„Pourquoi ont-ils tué Jaurès?“ –  „Warum haben sie Jaurès getötet?“, heißt es im Chanson von Jacques Brel.

Mit seiner Haltung hatte sich Jaurès mächtige Feinde im nationalistischen Lager gemacht. Mutig verteidigte er im Parlament den jüdischen Hauptmann Dreyfus, der 1894 Opfer einer beispiellosen Verleumdungskampagne geworden war: im Auftrag Deutschlands soll Dreyfus spioniert haben, hieß es. Zwischen den beiden Ländern verschärfte sich der Ton. Jaurès erkannte, dass aus einem lokalen Konflikt leicht ein europäischer Krieg werden könnte. 1908 erschien seine Studie über die Ursachen des deutsch-französischen Krieges 1870/71 und die folgende Revanche-Politik:

„An dem Konflikt, der zwei mächtige Nationen gegeneinander aufgebracht hat, trägt Frankreich eine tiefe Mitschuld. Frankreich war es, die ihn seit langem vorbereitet und fast unvermeidbar gemacht hat, indem es die Lebensbedingungen Deutschlands verkannt hat und der notwendigen und legitimen deutschen Einheit mit stiller Feindschaft entgegengetreten ist. (…) Wie schwer tat sich Frankreich, eine gleiche unter gleichen Nationen zu werden! Wie schmerzhaft war es, nicht länger die große Nation, sondern nur eine große Nation zu sein!“

Das war zuviel für die Revanchisten, die Demütigung der Niederlage mit der Annexion von Elsaß-Lothringen saß tief. Nach dem Mord an Jean Jaurès gab es manch hämische Reaktion, sein Mörder wurde gar freigesprochen. Daher sei es mehr als eine Geste, dass die nachfolgende Regierung die Beisetzung von Jean Jaurès im Panthéon veranlasst habe, resümiert Kurt Tucholsky 1924:

„Sie ist die Offenbarung des festen Willens einer Regierung und breiter französischer Schichten, im Frieden mit Europa zu leben, im Frieden mit den Nachbarn auszukommen (…) Diese Überführung ist eine Ehrung, eine Mahnung und ein Bekenntnis.“

http://www.deutschlandfunk.de/erster-weltkrieg-warum-haben-sie-jaures-getoetet.871.de.html?dram:article_id=293154

Jacques Brel widmete ihm ein Chanson mit dem Titel Jaurès (1977). Die Sozialistische Partei Frankreichs ehrt ihn, indem sie ihrer politischen Stiftung den Namen „Fondation Jean-Jaurès“ gab.

 

JEAN JAURÈS. DIE FLAMME DES SOZIALISMUS

Frankreich gedenkt in diesem Jahr des Staatsmannes Jean Jaurès, der vor hundert Jahren von einem fanatischen Nationalisten ermordet wurde. Er war einer der bekanntesten Verfechter des Reformsozialismus am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Film zeichnet seinen Lebensweg nach und fragt sich, ob dieses humanistische Erbe Lösungsansätze für unsere Gegenwart bietet.

Der französische Politiker Jean Jaurès (1859-1914) wurde vor hundert Jahren, am 31. Juli 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs von dem Nationalisten Raoul Villain in Paris ermordet. Am selben Tag hatte er in einer Sondersitzung des Internationalen Sozialistischen Büros in Brüssel die französische Regierung mit all seiner Rednerkunst dazu aufgefordert, den bevorstehenden Krieg zu verhindern.

Jean Jaurès wird 1859 im südfranzösischen Castres (Tarn) geboren und nach einem Abschluss in Philosophie an der Ecole normale supérieure (ENS) zunächst Lehrer in Albi. Von 1883 bis 1885 arbeitet er als Professor für Philosophie an der Universität von Toulouse. 1885 wird er als unabhängiger Abgeordneter in die Nationalversammlung gewählt. Sein politisches Engagement gewinnt an Bedeutung, als er sich 1892 mit den streikenden Minenarbeitern von Carmaux solidarisiert. 1902 führt Jaurès die reformerische „Parti Socialiste Français“ (PSF) an, 1904 gründet er die Parteizeitung „L‘Humanité“ und 1905 vereinigt er die gesamte Linke Frankreichs zur „Section française de l’Internationale ouvrière“ (SFIO). Bis 1914 bleibt er linksrepublikanischer Abgeordneter in der Nationalversammlung.

Der Dokumentarfilm beleuchtet Jaurès‘ gesamte politische Laufbahn, sein Engagement für die sozialistische Arbeiterbewegung, seinen Einsatz für die Rehabilitation von Alfred Dreyfus, den zu Unrecht wegen Spionage verurteilten jüdischen Offizier, sein Engagement für den Laizismus, seinen Kampf für die Abschaffung der Todesstrafe sowie seine radikale Verurteilung eines Angriffskriegs. Der Dokumentarfilm zeigt Jean Jaurès als einen Menschen, der sich entschlossen für die sozial Benachteiligten und für den Frieden engagiert, und befasst sich vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund mit der Aktualität seines politischen Erbes.

http://www.arte.tv/guide/de/048631-000/jean-jaures-die-flamme-des-sozialismus

Jean Jaurès wurde 1914 ermordet, doch die Ideen dieses Agitators wirken bis heute in der französischen Politik nach. Der Film analysiert sein umfangreiches, von vielen Seiten beanspruchtes Erbe. Gespräch mit dem Historiker Jean-Noël Jeanneney, Ko-Autor des Films.
Was möchten Sie einhundert Jahre nach dem Tod von Jean Jaurès über diese Persönlichkeit vermitteln?
Jean-Noël Jeanneney: Heute sind Straßen, Schulen und Metrostationen nach Jean Jaurés benannt, er ist auf Denkmälern und in Briefmarkenserien verewigt. Doch Jaurès war ein Mensch aus Fleisch und Blut mit einer sehr komplexen und widersprüchlichen Persönlichkeit. Sein tragischer Tod setzte seinem Leben ein jähes Ende und machte aus Jaurès eine Art Märtyrer des Sozialismus und der Republik. Besonders die Linke stilisierte ihn zum Vorzeige-Heiligen. Sein Leben und sein Werk gerieten darüber mehr oder weniger in Vergessenheit.

Ihre Dokumentation geht von dem Postulat aus, dass Jaurès weiterlebt und uns auch heute noch etwas zu sagen hat…
Jaurès wollte eine Gesellschaft mit mehr Gerechtigkeit und Gleichheit. Gewiss sind heute die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen ganz anders als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aber als Historiker weiß ich, dass bestimmte Themen weiterhin aktuell sind, z. B. was eine Nation ausmacht oder die Frage der Solidarität. Wir beleuchten, welche Art Linke Jaurès verkörperte und für welche Form der gesellschaftlichen Veränderung er eintrat: Revolution oder Reform? Er hob immer wieder die Bedeutung der Geschichte für das öffentliche Handeln hervor und betonte den universellen Charakter der Menschenrechte; so plädierte er in der Dreyfus-Affäre dafür, auch einen „Bourgeois’“ zu verteidigen, wenn er unschuldig ist. Oder man denke an seinen Kampf gegen die Todesstrafe, der Jahrzehnte später von Robert Badinter fortgeführt wurde. Ein weiterer Gegenstand seiner Überlegungen war die Beziehung des demokratischen Staates zu seiner Armee, vor dem Hintergrund der kürzlichen Debatte über den Militärhaushalt ein äußerst aktuelles Thema!

Heute berufen sich Sozialisten und Konservative gleichermaßen auf Jaurès. Sie bezeichnen das als „merkwürdige Einstimmigkeit“… 
Große Persönlichkeiten aus dem linken Lager erkennt die Rechte immer erst an, wenn sie tot sind. Denn dann stellen sie keine Gefahr mehr dar, und man kann seine Offenheit unter Beweis stellen. Völlig absurd ist dabei die Vereinnahmung von Jaurès durch den Front national. Über lange Jahre haben sich aber nur die französischen Sozialisten und Kommunisten Jaurès‘ Erbe streitig gemacht. Dass ihm nun auch andere ihren Tribut zollen, liegt daran, dass er als eine Art Prophet gehandelt wird, der seine Botschaften in klare, leicht verständliche Worte fasste. Was kein Grund ist, sie zu verwässern oder gar zu entstellen.

 

Das Interview führte Pascal Mouneyres für ARTE Magazine.

Zusammenfassen

Das erste Opfer des „Großen Krieges“

1. August 2014, 17:30

Der französische Präsident Francois Hollande beim Kaffeetrinken - Pazifist Jean Jaurès neben ihm.

Der deutsche Vizekanzler Siegmar Gabriel bei einer Kranzniederlegung in Paris.

Der französische Pazifist Jean Jaurès widmete die letzten Jahre seines Lebens dem Kampf für Frieden in Europa. Am Donnerstag jährte sich seine Ermordung zum hundertsten Mal

Das Gedenken an den ersten Weltkrieg ist derzeit in Frankreich allgegenwärtig. Medien, Museen und Politiker erinnern an den Ausbruch des „Großen Krieges“, der in der französischen Geschichte eine zentrale Bedeutung hat. Ein Mann flimmert in diesem Zusammenhang öfter als andere über die französischen Bildschirme: Jean Jaurès. Am 31. Juli 1914 wurde der überzeugte Verfechter von Pazifismus und Sozialismus von einem radikalen Nationalisten in Paris ermordet. Am Donnerstag wurden ihm zu Ehren in Paris und anderen französischen Städten Gedenkfeiern abgehalten.

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Frankreichs Politik und Jaurès

Jean Jaurès mag außerhalb seines Heimatlandes Wenigen ein Begriff sein, ein Blick auf Straßenkarten französischer Städte zeugt von seiner Bedeutsamkeit für das Land: über 2000 Straßen und zahlreiche Schulen, Metrostationen und Plätze tragen seinen Namen. Wie groß der Einfluss Jaurès auf die französische Gesellschaft tatsächlich war geht jedoch weit über Straßennamen hinaus und spiegelt sich auch in der aktuellen französischen Politik wieder. Politiker unterschiedlichster Auffassungen beschwören regelmäßig das Bild Jean Jaurès herauf: Nicolas Sarkozy meinte etwa, der wahre Erbe Jean Jaurès zu sein. Francois Hollande beschloss seine Wahlkampagne 2012 in Carmaux, wo sich Jaurès einst für die streikenden Minenarbeiter stark machte. Sogar auf einem Plakat der rechtsradikalen Partei Front National war der sozialistische Politiker zu sehen: „Jean Jaurès hätte für die Front National gestimmt“ – stand unter seinem Porträt.

Jean Jaurès wurde am 3. September 1859 im Südwesten Frankreichs geboren und absolvierte seine Schul- und Studienzeit an Pariser Eliteschmieden. Bereits in den 1880er Jahren engagierte sich Jaurès für die gemäßigte republikanische Partei und wird 1885 mit 26 Jahren zum jüngsten Abgeordneten der französischen Nationalversammlung gewählt. 1892 setzte er sich für streikende Minenarbeiter in Carmaux ein und wechselte in weiterer Folge in das sozialistische Lager. Nach mehreren gescheiterten Versuchen vereinte Jean Jaurès 1905 die unterschiedlichen sozialistischen Strömungen in Frankreich und wurde der erste Präsident der SFIO (Französische Sektion der Arbeiter-Internationalen), der Vorläufer der französischen Sozialisten Partei (PS).

Generalstreik der Arbeiter

Jean Jaurès politisches Wirken stand ganz im Zeichen des Kampfes für Gerechtigkeit und Frieden: Er trat für die Abschaffung der Todesstrafe ein und forderte während der Dreyfus-Affäre die Revision. In den letzten zehn Jahren seines Lebens zeigte er sich besorgt über den wachsenden Nationalismus und die Rivalitäten zwischen den Großmächten in Europa. Um Spannungen mit dem Deutschen Reich zu vermeiden, sprach er sich offen gegen die Errichtung eines französischen Protektorats in Marokko aus. 1913 engagierte er sich gegen die Verlängerung des Wehrdienstes, die aufgrund eines möglichen Krieges mit Deutschland eingeführt wurde. Nach dem Attentat von Sarajevo im Juni 1914 rief Jaurès die Arbeiter in Frankreich und Deutschland zu einem Generalstreik auf. Denn ohne Arbeiter könne es keinen Krieg geben, dachte er.

Mit seinem Auftreten machte sich Jean Jaurès viele Feinde, ließ sich jedoch trotz zahlreicher Todesdrohungen nicht von seinem Vorhaben, einen Krieg in Europa zu verhindern, beirren. Am Tag vor seinem Tod, am 29. Juli 1914, reiste er noch für ein Treffen der Sozialistischen Internationale nach Brüssel und plädierte an der Seite von Rosa Luxemburg ein letztes Mal für Frieden. Jean Jaurès dinierte am 31. Juli 2014 im Pariser Café du Croissant als der 29-jährige Nationalist Raoul Villain zwei Schüsse auf ihn abzielte. Die Ermordung Jean Jaurès am 31. Juli 1914 bedeutete das Ende der letzten Hoffnung auf Frieden für Europa. Drei Tage nach seinem Tod, am 3. August 1914, erfolgte die Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich. (Judith Moser, derStandard.at, 01.08.2014)

 

http://derstandard.at/2000003864506/Das-erste-Opfer-des-Grossen-Krieges

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